Selektionsschatten
Mit Selektionsschatten wird das Nachlassen der Wirksamkeit der
natürlichen Selektion (Selektionsdruck) im Verlauf der
Lebensspanne einer Spezies bezeichnet. Dahinter steht die Erkenntnis,
dass die Reproduktionsphase zwangsläufig auch ohne Altern
allein aufgrund von Unglücksfällen wie Blitzschlag,
Gefressenwerden usw. endet – die Selektion kommt zum
Erliegen. Nur Gene rechtzeitig fortpflanzender Artgenossen gelangen
folglich in den Genpool nächster Generationen.
Mithilfe des Selektionsschattens wird nun das Altern erklärt.
Wenn schon in jungen Jahren schadhafte Genmutationen erfolgen, die aber
erst nach Beendigung
der im Endeffekt unfallbedingt begrenzten Fortpflanzungsphase zu einem
Krankheitsausbruch führen, werden diese nicht
evolutionär ausgesiebt. Klassisches Beispiel ist die erbliche,
auf einem Gendefekt beruhende Huntington-Krankheit, die erst um das 40.
Lebensjahr zu ersten Symptomen führt. Hieraus leitete im Jahr
1942 erstmalig J. B. S. Haldane den evolutionären Mechanismus
hinter dem Altern ab. Der Begriff Selektionsschatten wurde indessen
durch P. B. Medawar eingeführt, der auch Haldanes Beispiel
1952 zur Mutations-Akkumulations-Theorie verallgemeinerte.
In das Konzept fügt sich die 1957 durch George C. Williams
aufgestellte Hypothese der antagonistischen Pleiotropie (so
später durch Michael R. Rose benannt), die annimmt, dass
manche Gene die Fertilität in jungen Jahren auf Kosten des
späteren Überlebens stärken. So ist ein
hoher Sexualhormonspiegel fortpflanzungsdienlich, aber auf lange Sicht
krebsförderlich. Genauso stütz die 1977 formulierte
Disposable-Soma-Theorie von Tom Kirkwood die Annahme eines
Selektionsschattens. Weil
die evolvierte Fortpflanzungsphase das Überleben des Somas
erfordert, werden dorthin Energie allokierende Gene selektiert.
Hiernach ist weiters überleben, da nun schon die Genweitergabe
gesichert ist, entbehrlich (disponibel), weshalb die
Energieallokationen auf Dauer unzureichend sind, so dass erst
spät wirksam werdende Schäden akkumulieren
können („error catastrophe“).
Das Nachlassen der Selektion ist ein schleichender Prozess, der bald
nach Beginn der Geschlechtsreife einsetzt, wenn manche Individuen
unfallbedingt keinen weiteren Paarungserfolg haben, und mit dem
letztmöglichen aufhört. W. D. Hamilton formalisierte
erstmalig 1966 die Zusammenhänge mathematisch nach folgendem
Schema:

Seien
x das chronologische Alter,
μ
die konstante
Dezimierungsrate in der Wildnis (ohne Altern) je vollendetem
x,
und
lx
die schwindende Überlebenschance, dann gilt
lx
= e-μx.
Unter Hinzunahme der konstanten Fortpflanzungsstärke
bx
eines
noch überlebenden Individuums lässt sich der
erwartbare Fortpflanzungsbeitrag
px
berechnen:
px = lxbx.
Die Summe
aller Beiträge bis
x (sei dies ∑
0
bis x
genannt)
ergibt den wahrscheinlichen gesamten Fortpflanzungserfolg als
Maßstab der Fitness. Beim plausiblen
„Selbstersatz“, also stabiler Population, wird
∑
0 bis ∞ = 1 ergeben.
Hierfür muss die
Fortpflanzungsstärke hinreichend groß sein.
Populationswachstum (∑ > 1) und Schrumpfung (∑
< 1) sind natürlich auch möglich. Für
∑
0 bis ∞ = 1
repräsentiert 1 - ∑
0
bis x
nun den Verlauf der nachlassenden
Selektionsstärke, wenn
diese anfänglich als 100 % angenommen wird. Die obigen
Grafiken
mit dem Zeitverlauf auf der x-Achse und der Selektionswirkung auf der
y-Achse fassen das Gesagte zusammen.
Verfasser: Dipl.-BW (FH) Michael Zabawa
Erschienen: April 2019