Das
Bürgerliche Gesetzbuch kam als Kompromiss zwischen liberalen
Idealen und staatlicher Bevormundung zustande. Soziale Interessen
wurden ausgeblendet.
Als 1873 der
Deutsche Reichstag mit dem Lex Miquel-Lasker ermächtigt wurde,
eine Privatrechtskodifikation für das gesamte Deutsche Reich
zu schaffen, war von vorne herein klar, dass dies kein leichtes
Unterfangen werden würde. Insbesondere der durch Friedrich
Carl von Savigny bereits 1814 in seiner Schrift „Vom Beruf
unserer Zeit für Gesetzgebung und
Rechtswissenschaft“ genannte Vorbehalt hatte nach wie vor
Geltung: Mangelhafte Aufarbeitung des altehrwürdigen
römischen Rechts, das in der damaligen Zeit Vorbildcharakter
hatte. Vor dem Hintergrund der 1871 erfolgten Reichsvereinigung erwies
sich jedoch die Erfordernis einer Privatrechtsvereinheitlichung als
gewichtiger, denn die bisherige Rechtszersplitterung mit verschiedenen
Kodifikationen und Partikularrechten in den einzelnen Reichsteilen
behinderte Justizwesen und Wirtschaftsverkehr. Mit einem Kraftakt
sollte nun das römische Recht aufgearbeitet werden, um im zu
erschaffenden Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) seinen
Niederschlag zu finden. Unter dieser Zielsetzung konnte ein umfassender
Ausgleich politischer, wirtschaftlicher und sozialer Interessen unter
dem Aspekt der Gerechtigkeit nicht gelingen.
Dem Manne steht die Entscheidung zu
So nahmen die Erschaffer des BGB – im Wesentlichen die durch
den Reichstag einberufene erste und zweite Kommission –
lediglich Rücksicht auf die beiden damals tonangebenden
gesellschaftlichen Eliten. Im ersten Fall handelt es sich um das
„wilhelmsche Bildungsbürgertum“ mit seinen
bürgerlich-liberalen Idealen, welche dank wirtschaftlichen
Erfolgs selbstbewusst hochgehalten wurden und, wie zu zeigen ist,
maßgeblich das BGB prägten. Die andere Elite war der
kaiserliche Regierungsapparat mit seinen obrigkeitsstaatlichen
Vorbehalten, die im Gesetzeswerk hingenommen werden mussten.
Insbesondere war das Vereinsrecht betroffen, denn die
Verwaltungsbehörden konnten nach dem inzwischen aufgehobenem
§ 61 BGB gegen die Eintragung eines Vereins Einspruch erheben,
falls dieser einen politischen, sozialpolitischen oder
religiösen Zweck verfolgte. Stand diese Duldung des
traditionellen Machtanspruchs des Staates im Widerspruch zu der
ansonsten fortschrittlichen liberalen Grundhaltung, so fand das
konservative Prinzip des Patriarchats, welches im Familienrecht Einzug
fand, auf beiden Seiten Anklang. Der mittlerweile aufgehobene
§ 1354 BGB besagte: „Dem Manne steht die
Entscheidung in allen das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffenden
Angelegenheiten zu. …“.
Ein ausdrückliches Bekenntnis des Gesetzgebers zu den
liberalen und autoritativen Positionen vermisst man allerdings
weitgehend, da dieser sich, wie Hans Schulte-Nölke
herausstellt, als eine neutrale Partei und nur der Gerechtigkeit
verpflichtet sah. Die Ausrichtung nach den Eliten ist zunächst
alleine deshalb naheliegend, da die Schöpfer des BGB als
„Kinder ihrer Zeit“ vom Zeitgeist beeinflusst
waren. Das kann auch für einzelne Beteiligte gut
begründet werden. So war gemäß dem
Zeitzeugen Lujo Brentano der Romanist Bernhard Windscheid, auf dessen
Pandektenlehre das BGB basiert, „die Verkörperung
des idealistischen Liberalen“. Auch die Beratungen im
Reichsjustizamt unter Hinzuziehung von Nationalökonomen
stützen die These von der (wirtschafts-)liberalen Ausrichtung,
zumal eine „Gegenpartei“ wie z. B. ein
Arbeitervertreter nicht vorzufinden war.
Das BGB wurde nicht für
Schlafmützen geschrieben
Abgesehen von den autoritativen bzw. patriarchalischen
Schwerpunktsetzungen im Vereins- und Familienrecht trug daher das 1896
publizierte und 1900 in Kraft getretene BGB den liberalen Stempel. Das
zeigt sich vor allem im Hochhalten der Freiheitsprämisse, die
sich nach wie vor im Vertragsrecht, Sachenrecht und dem Erbrecht des
BGB vorfindet. Demnach wird jedermann Vertragsautonomie (§ 311
Abs. 1 BGB), das Recht, frei über sein Eigentum zu
verfügen (§ 903 BGB), und die Vererbungsfreiheit
(§ 1937 BGB) zugestanden. Das Zugeständnis all dieser
Freiheiten kann aber nur als sinnvoll und gerecht erachtet werden,
falls die Rechtssubjekte als gleichgestellt und gleichstark gedacht
werden, und keiner von ihnen auf wirtschaftliche oder soziale
Besserstellung beruhende Macht ausüben kann, welche er
ungehindert zuungunsten eines Schwächeren missbrauchen
könnte. Soweit der Gesetzgeber nach eigenem Bekunden
selbstverständlich Gerechtigkeit herstellen wollte, so kann es
sich deshalb nur um Gerechtigkeit unter Gleichen handeln. Dabei setzte
der Gesetzgeber auf die Vernunft der Rechtsgenossen und unterstellte,
dass sie demnach nur faire Geschäfte eingehen würden,
bei denen Leistung und Gegenleistung im Einklang stehen, wodurch die
ausgleichende Gerechtigkeit verwirklicht wäre. Eine
Notwendigkeit das als selbstverständlich zugrunde gelegte
Prinzip der Tauschgerechtigkeit ausdrücklich zu kodifizieren
sah man nicht.
Hinter der Gerechtigkeit unter Gleichen und der damit einhergehenden
Tauschgerechtigkeit steht das Menschenbild des Homo oeconomicus, das
wie das Bürgertum nach der Aufklärung empor stieg und
zukunftsweisend wurde. Bezogen auf die Rechtssubjekte des BGB wurde in
diesen der auf wirtschaftlichen Wohlstand abzielende,
selbständige und rationale Bürger gesehen, der stets
bereit ist, seine rechtlichen Interessen wachen Geistes zu vertreten:
Leges vigilantibus, non dormientibus scripta sunt – Gesetze
sind für die Wachen, nicht die Schlafenden geschrieben.
… die Industrialisierung hat man aber
selbst verschlafen
Ohne Zweifel widerspricht die Unterstellung der Gleichrangigkeit der
damaligen gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der insbesondere die
Arbeiterschaft aber auch die verarmte Landbevölkerung mangels
Bildung und Besitz schlechtere Voraussetzungen bei
Rechtsgeschäften hatten. Im weitgehenden Verzicht auf
Schutzregeln für Schwächere erweist sich
zunächst die Eignung des BGB für Angehörige
der gleichen sozialen Klasse und durch den umfassenden Schutz von
Besitz und Eigentum wird deutlich, dass diese Klasse die besitzende
bürgerliche Schicht ist. Lediglich gesetzlich verbotene,
sittenwidrige und vorsätzlich schädigende
Rechtsgeschäfte waren unzulässig
(§§ 134, 138, 226 BGB). Auch war die
Verfügung über das Eigentum beschränkt, wenn
Rechte Dritter verletzt wurden (§ 903 BGB). Als
„Grenznormen“ korrigieren diese Regelungen nur sehr
grobe Unverhältnismäßigkeiten beim
Interessensausgleich. Einen schwachen Schutz boten indirekt
Fürsorgepflichten bei Dienstverträgen
(§§ 616 bis 619 BGB). Ansonsten war der Dienstvertrag
auf vorindustrielle Arbeitsverhältnisse zugeschnitten.
Somit blieben die Forderungen der im Zuge der Industrialisierung neu
aufkommenden Arbeiterklasse weitgehend unerhört, da
für deren speziellen Belange seitens der gesellschaftlichen
Eliten wenig Sensibilität vorhanden war. Vor den
ausgeblendeten Schattenseiten der Industrialisierung –
Arbeiterausbeutung, Wohnungsnot, Massenelend – bot das BGB
daher kaum Schutz. Erst nach dem Ersten Weltkrieg wurde die soziale
Frage seitens des Gesetzgebers ernst genommen. Davon zeugen zum
Beispiel die Tarifvertragsverordnung von 1918, das
Betriebsrätegesetz von 1920, oder
das Mieterschutzgesetz von 1923, die mitsamt vielen anderen
Spezialgesetzen
das Grundgerüst des heutigen auf sozialen Ausgleich bedachten
Rechtsystems darstellen.
Verfasser:
Dipl.-BW (FH) Michael Zabawa
Erschienen: August 2011
Quellen und
Literatur:
Brentano, Lujo, Deutsche Juristen-Zeitung, München 1909, Sp.
965
Diederichsen, Uwe; Sellert, Wolfgang (Herausgeber), Das BGB im Wandel
der Epochen, 10. Symposion der Kommission „Die Funktion des
Gesetzes in Geschichte und Gegenwart“, Vandenhoeck &
Ruprecht, Göttingen 2002
Schulte-Nölke, Hans, Das Reichsjustizamt und die Entstehung
des Bürgerlichen Gesetzbuchs, Klostermann, Frankfurt am Main
1995 |